Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, dass der angeschlagene Traditionskonzern ein Übernahmeangebot erhält, denn eine Sanierung aus eigener Kraft wurde für den deutschen Stahlriesen nach jahrelangem Missmanagement immer unwahrscheinlicher.
Angefangen hatte das Debakel nach dem Tod des großen Patriarchen Beitz und der personellen Neubesetzung der Vorstandsspitze der Krupp-Stiftung, die sich recht schnell als Fehlgriff herausstellte. Denn die Wissenschaftlerin Ursula Gather mag intellektuell hoch kompetent sein, sie stand jedoch von Anfang an nicht für die Werte der Krupp-Stiftung. Mit ihren Alleingängen vergraulte sie recht schnell den damaligen Vorstandschef Heinrich Hiesinger sowie den Aufsichtsratsvorsitzenden Ulrich Lehner (vgl. ES-Randnotizen 29/18). Doch auch sie hatten es – ebenso wie Gerhard Cromme und selbst später Guido Kerkhoff – verpasst, aus dem deutschen Traditionskonzern eine moderne Stahlholding zu konstruieren. Sie haben sich in ihrer Managerherrlichkeit auf die ewig währenden üppigen Gewinne der Stahldivision verlassen und dabei verschlafen, das vorhandene Portfolio zukunftsorientiert auszuweiten und stabil auszurichten.
Jahrzehntelang fehlte es an Kreativität und Mut. Dazu kamen Fehlinvestitionen in Brasilien und den USA, wo Milliarden Euro in defizitären Stahlwerken versenkt wurden. Auf der anderen Seite stand die IG-Metall mit ihren immer neuen Forderungen sowie seit einigen Jahren der Finanzinvestor Cevian mit rund 18 % der Konzernanteile. Sie alle wollten immer mehr, doch sie zogen nicht an
einem Strang. Schließlich brachte diese Gemengelage die alte „Stahl-Festung“ ins Wanken, und nun wird sie stürzen.
Für die derzeitige Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz gibt es längst „keine Denkverbote“ mehr. Damit dürften alle Einzelteile sowie der gesamte Konzern zur Disposition stehen. Dies sagt einiges über die Verfassung des einstigen Stahlgiganten aus, der die Industrialisierung des Ruhrgebiets maßgeblich mit geprägt hat. Die vom Gründer Alfred Krupp gegebene Satzung verpflichtet die Stiftung zwar, die Einheit des Unternehmens zu wahren. Doch in der größten Not sind solche Werte und Traditionen nicht mehr als heiße Luft. Und es wäre nicht das erste Mal, dass die Stiftungssatzung sehr frei ausgelegt würde. Denn auch die Großaktionäre sind für alle Optionen offen, wenn
sie nur genug Geld damit verdienen. Sie fühlen sich dem Profit verpflichtet, nicht der Tradition.
Der Verkauf der Aufzugsparte offenbarte bereits das ganze Elend des Konzerns. Der in Jahrhunderten von Generationen aufgebaute Industrieriese Thyssenkrupp steht vor dem Ende. Er wird fallen – ein harter Schlag für Deutschland und ein Identitätsverlust für den Pott. Übrig bleibt die Erkenntnis: Mit Stahl kann man in Essen auch ohne Coronakrise auf absehbare Zeit kein Geld mehr verdienen. Die Stahlsparte verbrennt jeden
Tag (!) Millionen an Euro. Derzeit kann der Konzern dies mit dem Verkauf der Ertragsperle Thyssenkrupp Elevator ausgleichen, für die er 17 Mrd. Euro kassierte. Doch in ein paar Monaten ist auch dieses Geld weg, wenn nicht bald gehandelt wird.
Ursprünglich wollte man mit dem Elevator-Verkauf die hohen Schulden abbauen und in klimafreundliche Produktionsstätten investieren. Die Transformation von der kohlebasierten zur wasserstoffbasierten Produktion würde Thyssenkrupp aber mindestens
10 Mrd. Euro kosten. Es würde Jahrzehnte dauern, diese Investitionen wieder einzuspielen. Dies ist auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier klar. Sie wollen zwar die grüne Transformation dieser „systemrelevanten“ Branche mit Staatsgeldern fördern, eine direkte Beteiligung lehnen sie
jedoch ab. Dabei wird immer wieder spekuliert, dass sich das Land NRW mit 25 % an Thyssenkrupp beteiligen könnte – auch, um die Arbeitsplätze am Hauptsitz Duisburg zu retten.
Zu den weiteren Denkspielen in der Branche gehört seit Längerem auch schon eine Fusion mit deutschen Stahlherstellern zu einer Deutschen Stahl AG. Im Gespräch sind hier die Konkurrenten Salzgitter und Saarstahl. Da beide bereits im halbstaatlichem Besitz sind, käme also hier doch noch eine staatliche Beteiligung zum Tragen. Durch den Rückzug von Salzgitter-Chef Heinz Jörg Fuhrmann könnten sich hier neue Optionen ergeben, denn er gehört zu den großen Gegnern eines solchen Zusammenschlusses. Dies wäre sicherlich die beste Lösung für den Standort Deutschland, das Unternehmen und die Mitarbeiter. Auch den Aktionären sollte diese Option gefallen.
Doch nun steht da das überraschende Angebot der Liberty Steel Group. Die Briten legten ein unverbindliches Kaufangebot für die gesamte Stahlparte vor, anders als die bisherigen Interessenten SSAB oder Tata, die sich laut Branchenkreisen bislang nur für Teile von Thyssenkrupp Steel interessieren. Mit allen dreien soll es bereits Kontakte gegeben haben. Obwohl Liberty Steel insgesamt mehr als 30.000 Mitarbeiter in Europa, Großbritannien, den USA und China beschäftigt und über eine Produktionskapazität von 18 Mio. Tonnen verfügt, ist man in Essen nicht gerade erfreut über die Offerte. Das Unternehmen hat in der Branche einen schlechten Ruf als „Reste-Sammler“. Unternehmer Sanjeev Gupta selbst beschrieb es unlängst so: „Vor gut fünf Jahren habe ich angefangen, marode Stahlwerke in Großbritannien zu kaufen. Wir haben sie saniert und neu ausgerichtet.“ Kein Wunder also, dass man den Briten nicht traut und fürchtet, dass sie für kleines Geld einen großen deutschen Namen kaufen wollen, aber sich um Traditionen und Mitarbeiter einen Dreck scheren.
Der Thyssenkrupp-Poker geht in die nächste Runde, doch inzwischen ist nicht mehr viel aus dem einstigen Ruhrbaron herauszuholen. Die Geschichte eines der wirtschaftlich imposantesten Industrieunternehmen Deutschlands geht kläglich zu Ende.