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Demografische Dividenden

Das Kapital der Jugend

Am 20. April traf sich Apple-Chef Tim Cook mit dem indischen Premierminister Narendra Modi in Neu-Delhi. Einen Tag zuvor hatte Cook den ersten Apple-Laden in der Metropole Mumbai eröffnet, noch in derselben Woche kam ein zweiter in der indischen Hauptstadt dazu. Doch dies ist erst der Anfang einer neuen Expansionsstrategie des Tech-Riesen, der zwei Jahrzehnte lang bevorzugt auf China gesetzt hatte. Apple will damit nicht nur seine Lieferketten diversifizieren, sondern vor allem von der demografischen Dividende Indiens profitieren.

Früher galt es als gute Altersabsicherung für Paare, viele Kinder zu haben. In einigen Regionen der Erde ist dies heute noch so. Und selbst für Industrienationen spielt die junge Generation im erwerbsfähigen Alter eine wirtschaftlich bedeutsame Rolle. Was in den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland die Babyboomer-Generation war, wird von Wirtschaftswissenschaftlern inzwischen als demografische Dividende bezeichnet. Gemeint ist damit eine Altersstruktur, bei der ein Land weit mehr Menschen im arbeitsfähigen Alter als Rentenbezieher hat, was zu höherer Produktivität und damit zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand führt. Die demografische Dividende ist jedoch ein vorübergehender Zustand, der nur solange anhält, bis sich die Altersstruktur der Bevölkerung wieder ändert. Das Zeitfenster schließt sich, wenn die Bevölkerung ergraut und die Kosten für die Pflege der Senioren steigen.

China hat seinen wirtschaftlichen Aufstieg in den letzten 20 Jahren auch dieser demografischen Dividende zu verdanken. Millionen von Arbeitnehmern wanderten vom Land in die Fabriken der Städte ab und haben China zur Werkstatt der Welt gemacht. Die chinesische Regierung hat außerdem in die Ausbildung ihrer jungen Menschen investiert, um sie für die Arbeit in einer modernen Wirtschaft zu befähigen. Der dogmatische Einparteienstaat konnte damals schnell und unbürokratisch riesige Landflächen für Industriezonen, Häfen oder Bahntrassen frei machen und die Industrialisierung vorantreiben. Doch durch die Ein-Kind-Politik hat das Regime letztlich das eigene Zeitfenster verkürzt und den Alterungsprozess des Landes beschleunigt. Heute ist jeder fünfte Chinese älter als 60 Jahre. Peking sieht sich nun mit den Problemen einer überalterten Bevölkerung konfrontiert – so wie die Europäer auch, leugnet dies aber.

„Die demografische Dividende eines ­Landes hängt von der Quantität der Bevölkerung ab, die Qualität der Bevölkerung ist jedoch noch wichtiger. Chinas demo­grafische Dividende ist nicht verschwunden und seine Talentdividende ist im Entstehen.“ (Wang Wenbin, Sprecher des chinesischen Außenministeriums)

Nach Schätzungen des UN-Bevölkerungsfonds UNFPA wird es ab Mitte dieses Jahres mehr Inder als Chinesen auf der Erde geben. Dann werden nach UN-Berechnungen in Indien 1,4286 Mrd. Menschen leben und damit fast 3 Mio. mehr als in China. Die gesamte Weltbevölkerung beträgt dann rund 8,045 Mrd. Menschen. Experten rechnen damit, dass in Indien angesichts seiner überwiegend jungen Bevölkerung das Wachstum weiter anhalten und nach vier Jahrzehnten mit fast 1,7 Mrd. Menschen einen Höchststand erreichen wird. Für China dagegen wird ein rascher Bevölkerungsrückgang prognostiziert. Zu Beginn des nächsten Jahrhunderts könnte es somit doppelt so viele Inder wie Chinesen geben.

„Die Rangfolge der bevölkerungsreichsten Länder der Welt wird sich in den nächsten 25 Jahren erheblich verändern. Während wir hier sprechen, überholt die indische Bevölkerung beispielsweise die chine­sische.“ (Dr. Natalia Kanem, Exekutivdirektorin des UN-Bevölkerungsfonds UNFPA)

Für Indien ist dies sowohl Chance als auch Herausforderung. Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 30 Jahre. Aber nicht für alle gibt es auch einen Job. Das Land hat in den letzten zehn Jahren netto null neue Arbeitsplätze geschaffen, obwohl mehr als 100 Mio. Menschen in das Erwerbsalter gekommen sind. Von den 20 Mio. Menschen, die jedes Jahr alt genug werden, um in den Arbeitsmarkt einzutreten, haben nur etwa 8 Mio. tatsächlich die Chance auf einen Job, so Mahesh Vyas, Geschäftsführer des Centre for Monitoring Indian Economy in Mumbai. Daher lag die allgemeine Erwerbsquote des Landes im März bei 39,8 %, verglichen mit 62,6 % in den USA. Das zeigt Indiens potenzielle Unfähigkeit, Arbeitsplätze in ausreichender Zahl zu schaffen und birgt die Gefahr, eine große und einmalige Chance zu vergeben.

Allerdings hat Indien lt. Prognosen ein langes Zeitfenster, um aus seiner Jugend Kapital zu schlagen. Und gerade jetzt beenden viele ausländische Unternehmen wie Apple ihre wirtschaftlichen Aktivitäten in China und sind auf der Suche nach neuen Standorten mit billigen und gut ausgebildeten Arbeitskräften. Fast jedes sechste europäische Unternehmen in China schaut sich ebenfalls derzeit nach Alternativen um. Obwohl Länder wie Vietnam und Mexiko ausländische Firmen heftig umwerben, ist Indien das einzige Land mit einer so großen Erwerbsbevölkerung – so wie China zu seiner Blütezeit. Überhaupt erinnert Indien in vielerlei Hinsicht an China vor 30 Jahren. Es hat eine schnell wachsende Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und über 1,4 Mrd. potenzielle Konsumenten.

„Wir stehen an der Schwelle des vielleicht bedeutendsten Bevölkerungswandels
der letzten 200 Jahre. Das Gravitationszentrum der Welt verschiebt sich schon seit einiger Zeit, aber es ist dabei, sich zu verfestigen.“
(Irfan Nooruddin, Direktor des South Asia Center beim Atlantic Council in Washington)

Jedes Jahr verlassen 1,5 Mio. gut ausgebildete Ingenieure indische Universitäten. Sie alle sprechen fließend Englisch, und 10 % von ihnen haben ein Auslandspraktikum absolviert. Der Internationale Währungsfonds IWF prognostiziert für Indien ein Wirtschaftswachstum von 6,1 % für das laufende Jahr und 6,8 % für 2024. Laut eines Berichts der State Bank of India hat das Land bereits Großbritannien als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt überholt und könnte auch Deutschland und Japan abhängen, um im Jahr 2029 die drittgrößte Volkswirtschaft hinter den USA und China zu werden.

In Deutschland hatte die Babyboomer-Generation die Bundesrepublik einst zur größten Volkswirtschaft Europas gemacht. Die geburtenstarken Jahrgänge haben gemeinsam mit Politikern wie Adenauer und Brandt die Demokratie stabilisiert und Wohlstand geschaffen. Aber sie haben auch Karriere gemacht, gut gelebt und die Ressourcen der Erde verbraucht. Nun gehen die Babyboomer in den Ruhestand und werden zu Rentenboomern, ohne die künftige Generation ausreichend darauf vorbereitet zu haben. Bereits heute fehlen 2,2 Mio. altersgerechte Wohnungen. Und in den nächsten Jahren wird sich die Situation weiter verschlimmern – in allen Bereichen. Denn die geburtenschwachen Jahrgänge werden kaum noch die Renten der Alten finanzieren können. Wenn 2036 der letzte Babyboomer in Rente geht, wird es 4 Mio. über 67-Jährige mehr geben als heute. Schon 2021 kamen auf 768.191 Schulabgänger 1,4 Mio. neue Rentner. Haben 1962 noch sechs Erwerbstätige einen Rentner finanziert, werden es im Jahr 2030 nur noch 1,5 Erwerbstätige sein. Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) rechnet dann mit 5 Mio. fehlenden Fachkräften.

„Wir werden nie wieder so viele professionelle Pflegekräfte haben, wohl kaum mehr Geld, aber mehr Menschen mit Pflegebedarf.“ (Claudia Moll, Altenpflegerin und Mitglied des Deutschen Bundestages)

Zeitgleich könnte Indien auf den Höhepunkt seiner ökonomischen Blütezeit hinsteuern, dabei Deutschland schon längst überholt haben und China kräftig Konkurrenz machen. Die derzeitige indische Regierung scheint diese Chancen zu erkennen und ist handlungswillig. Aktuell versucht sie massiv, die eigene Infrastruktur durch den Bau von Flughäfen und Straßen zu verbessern und den Zugang zu Strom und Wasser im ganzen Land auszubauen. Mittelfristig sollen 50 %
mehr Autobahnen entstehen. Indiens mobiles Zahlungssystem erlebt ebenfalls einen Boom. Auch das Mobilfunknetz wird weiter ausgebaut. Schon heute gilt Indien als „Apotheke der Welt“, besonders bei der Produktion von Generika.

Auch politisch agiert Indien derzeit sehr geschickt. Modi weigert sich zwar bis heute, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen, was seinem Land zunächst Kritik einbrachte, doch schon bald einen Wettstreit um seine Gunst auslöste. So verhandelt die deutsche Bundesregierung gegenwärtig gemeinsam mit den USA über eine G7-India-Just-Energy-Transition-Partnerschaft. Sie soll Indien beim beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien und beim Kohleausstieg helfen. Bei Modis Reise durch Deutschland, Dänemark und Frankreich im vergangenen Monat wurde ihm überall der rote Teppich ausgerollt.

„Jede der anderen Großmächte – die USA, Russland und China – buhlen intensiv um Indien, um ihren Gegnern einen strategischen Vorteil zu verwehren.“
(Derek Grossma, Verteidigungsanalyst und ehemaliger Berichterstatter des US-Verteidigungs­ministers für asiatische und pazifische ­Sicherheitsangelegenheiten)

Der bisher wichtigste strategische Partner für Indien sind aber unbestritten die USA, und die wollen es auch bleiben. Seit 2018 halten Neu-Delhi und Washington jährliche Gipfeltreffen ab und haben zahlreiche Sicherheitsabkommen unterzeichnet. Beide Länder sind zusammen mit Australien und Japan Teil des Quadrilateralen Sicherheitsdialogs (Quad). Auf dem Quad-Gipfel in Tokio im vergangenen Monat traf Modi zum zweiten Mal persönlich mit US-Präsident Joe Biden zusammen. Außerdem hat sich Neu-Delhi dem Indo-Pacific Economic Framework for Prosperity angeschlossen, das darauf abzielt, die Wirtschaftsbeziehungen in der Region auch ohne ein formelles Handelsabkommen zu intensivieren. Doch auch Russland zeigt sich um Indien bemüht. Nach einem Besuch des russischen Außenministers Sergej Lawrow in Indien brachte dieser sogar die Möglichkeit ins Gespräch, dass Indien im russisch-ukrainischen Krieg eine Vermittlerrolle übernehmen könnte, was dem Land auf der Weltbühne eine sehr prominente Position verschaffen würde.

Kein Wunder also, dass es immer mehr internationale Konzerne nach Indien zieht. So steigt die Reederei Hapag-Lloyd mit 40 % bei einem indischen Terminal- und Transportdienstleister ein. Apples Partner Foxconn will im südindischen Bundesstaat Karnataka ein neues Werk errichten, in dem bis zu 20 Mio. iPhones pro Jahr produziert und 50.000 Menschen beschäftigt werden sollen. In Europa ist Deutschland Indiens größter Handelspartner. Mehr als 1.700 deutsche Unternehmen sind in Indien präsent und stehen für rund 400.000 direkte und indirekte Arbeitsplätze im indischen Arbeitsmarkt. Aber auch Indien investiert seinerseits in die Partnerschaften. So hat die indische Fluggesellschaft Air India im größten Deal ihrer Geschichte 250 Jets bei Airbus bestellt und knapp 300 weitere beim US-Rivalen Boeing. Im Gegenzug sollen die bisherigen Partner ihre Endmontagelinien nach Indien verlagern. Die deutsche Siemens AG hat im Januar den bisher größten Einzelauftrag für Lokomotiven in ihrer Unternehmensgeschichte aus Indien erhalten. Die Deutschen werden 1.200 E-Loks an die Bahngesellschaft Indian Railways liefern – ein Auftragsvolumen von 3 Mrd. Euro.

„Ging es in Indien lange vor allem darum, besonders kostengünstig zu produzieren, spielt mittlerweile Innovation eine wichtige Rolle. So ist Indien zu einem Land der Start-ups geworden und zählt mittlerweile mehr als 100 Einhörner.“  (Prof. Dr. Nils Stieglitz, Präsident und
Geschäftsführer der Frankfurt School of Finance & Management)

Es gibt aber auch zahlreiche indische Unternehmen, die für ausländische Anleger interessant sind. Die 50 nach Marktkapitalisierung größten Unternehmen Indiens werden im National NIFTY 50 zusammengefasst (s. Abb.). Allerdings ist ein direktes Investment an der Börse Mumbai schwierig, da hier hohe Auflagen bestehen. Über den Franklin FTSE India UCITS ETF können Anleger in Aktien mit hoher und mittlerer Marktkapitalisierung in Indien investieren. Der thesaurierende Fonds bildet den FTSE India 30/18 Capped Index nach und ist sogar sparplanfähig. Zu den größten Positionen gehören die auch in den USA notierten Infosys Technologies (ein auch in Deutschland tätiger IT-Serviceprovider) und Reliance Industries. Diese beiden Unternehmen wollen zusammen mit dem größten Bau- und Maschinenbauer des Landes, Larsen & Toubro (vgl. Tabelle), sowie einer Handvoll weiterer Unternehmen in den kommenden fünf bis acht Jahren zusammen mehr als 250 Mrd. US-Dollar in die eigene Wirtschaft investieren. Allein dies zeigt schon das riesige Potenzial, das hier schlummert.

Wenn es Indien gelingt, sein Zeitfenster zu nutzen und aus der demografischen Dividende Profit zu schlagen, könnte es einen kometenhaften wirtschaftlichen Aufstieg vor sich haben und zur neuen wirtschaftlichen Weltmacht aufsteigen. Anleger sollten sich frühzeitig entsprechend positionieren.